Abfahrt

Der typische deutsche Skandinavienurlauber steht bereits um Punkt 22:00 Uhr am Check-in des Fährterminals in der Schlange, wenn das Boarding für die Fähre um 23:30 Uhr beginnt. Er trägt einen leichten Windbreaker von The North-Face, kurze Cargohosen und Trekkingsandalen mit Socken. Vor allem hat er all seine Unterlagen sortiert, geprüft und ggf. korrigiert beisammen. Es geht korrekt zu am Skandinavienkai in Travemünde.

Wir gehören nicht zu den typisch deutschen Skandinavienurlaubern! So viel steht jetzt fest. Eine Woche lang hatte ich Listen geschrieben, geplant, gepackt, recherchiert und gegen gecheckt. Was habe ich geschwitzt bei 28 Grad während des Bestückens unseres Wohnmobils! Bereits am Ende meiner Kräfte, aber dennoch guten Mutes dem hohen Anspruch an die Reiseplanung zu genügen, waren wir bei unserer Abfahrt in Lüneburg doch noch voll im Zeitplan, reihten wir uns ein zwischen die stolz röhrenden Rentier-Heckaufkleber, wähnten uns auf der richtigen, der sicheren, der vorbereiteten Seite, bis, ja – bis die nette Dame mit den roten Haare und dem „rollenden R“ am Schalter die Pässe unserer Kinder in die Höhe hielt und fragte: „Gibt es dafür eine Verlängerung?“

„Für den Wagen? Ja, also die Überlänge war angekündigt. Wir hatten gestern noch angerufen.“
„Nein, die Ausweise.“

„Äh, sind Pässe nicht grundsätzlich zehn Jahre gültig?“

„Dieser Pass ist seit zwei Jahren abgelaufen!“
„Ja, aber es war doch Corona!“
„Dieser hier seit drei Jahren.“
Piepsen der Smartwatch, weil meine Stresskurve gefährlich anstieg.
„Aber es sind doch unsere Kinder.“
In diesem Moment zogen fünf blonde Kinder lachend an Wohnmobil und somit am Check-In Schalter vorbei, ohne sich in irgendeiner Form auszuweisen. Ich überlegte kurz, ob ich meine Kinder einfach hinterher laufen lasse. Das könnten alles Geschwister sein. Ob das einer merkt?

„So können wir sie nicht befördern.“
„…“

Es musste doch eine Lösung geben. Nach 130 km bereits am deutschen Berechtigungswesen zu scheitern, welch unwürdiger Verlauf!
„Was sollen wir denn nun tun?“
„Sie fahren zurück nach Lübeck und verlängern den Pass.“
„Aber, werte Dame, zum einen kommen wir aus Lüneburg, zum anderen ist es 22:23 Uhr. Wer verlängert denn jetzt noch einen Kinderpass?“
„Nein, nicht Lüneburg. Lübeck! Bundespolizei, Schwartauer Landstraße 1a. Sie haben eine Stunde Zeit. Viel Glück!“
Mit diesen berühmten letzten Worten schloss sich die Plexiglasscheibe und ein Hüne in Warnweste lotste uns an unseren Verwandten vorbei, zurück zur Ausfahrt des Hafens.
Nun begann ein Rennen gegen die Zeit mit zwei Kindern, die – völlig übermüdet und desorientiert – kurz überlegten, ob sie den Finnlandurlaub vielleicht einfach verschlafen hätten und mit Nerven, so angespannt wie das Drahtseil, auf dem Pipi Langstrumpf über diesen Marktplatz balanciert war, nachdem sie mit Tommi und Annika ausbüchste. Bruce Willis Pokerface war nichts gegen Kimmos Miene. Das Gesicht zu einer Faust geballt, erreichten wir nach ca. 13 Minuten Fahrtzeit die Bundespolizei in Lübeck.

Pixie arbeitet an einem Masken-Geheimcode, um ihr Überlaufen zu signalisieren. Enni fragt sich, wo sie da rein geraten ist.

Dass für diese unser „worst case“ eher „business as usual“ war, wirkte wie Balsam für meine Nerven. Deutschland, Du bist vielleicht nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber das Land der geregelten Wege und diese Wege führen oft zu Lösungen. Dafür bin ich wirklich dankbar! Nach ca. 20 Minuten, in denen Pixie den Beamten mehrmals versteckte Hinweise gab, ob es nicht möglich sei, für Nachwuchskräfte früher in Dienst und Brot zu gelangen, also ob sie vielleicht einfach da bleiben könnte, um dieser Chaoten-Familie zu entfliehen, hielten wir zwei zeitlich begrenzte Reisegenehmigungen in den Händen. Ich wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, umgehend das Bürgeramt unseres Wohnortes aufzusuchen, wenn wir zurück wären und unsere Reisekasse erleichterte sich noch vor der Ausreise um 16€. Die vier Euro Trinkgeld für die Kaffeekasse durften die netten Beamten nicht annehmen. Ach, Deutschland! Ich mag Dich, manchmal.
Wir erreichten unsere Fähre pünktlich. Wir waren noch nicht mal die letzten in der Schlange. Wir warteten in der Tat noch zweieinhalb Stunden in der Schlange, bevor wir gegen 1:30 Uhr endlich auf die Fähre führen.

Disclaimer: Dieser Text soll niemanden ermutigen, üblen Schlendrian mit seinen Ausweispapieren zu treiben. Er herrscht Ausweispflicht in Deutschland und das ist auch gut so. Solltet Ihr aber ein wenig wie wir sein und sollte es Euch passiert sein, dass Euch das Schiff vor der Nase wegzufahren droht, dann hoffe ich, dass Euch der mächtige Google-Algorithmus auf der Suche nach einer Lösung diese Seite ausspuckt. Nicht aufgeben! Wir schaffen das.


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