Tag 2 Ankunft in Helsinki

Rastila
Camping ist die Rückführung in eine steinzeitliche Lebensweise unter Zuhilfenahme modernster Technologie. Nach unserer Ankunft auf dem Rastila in Helsinki sind wir zunächst ständig mit dem Wohnmobil beschäftigt. Hier fehlt noch ein Tab, dort muss ein Ventil geöffnet werden, der Wagen gehört hoch gebockt, die Betten aufgestockt, die Luken müssen mit dem Mückengitter verschlossen, die Pumpe mag gestartet und sowieso alles gewartet werden.
Liebes Wohnmobil frag doch bitte nicht, was wir für Dich, sondern was Du für uns tun kannst.

Es hakt noch alles etwas. Um zu duschen, geht man dann eh lieber in eines der beigen Holzhäuser mit abschließbaren, geräumigen Kabinen. Die Duschen sind allerdings etwas für Energie-Optimierer. Der Duschkopf, fest montiert in ca. zwei Metern Höhe, sondert immer genau fünf Sekunden Wasser ab, bevor man wieder auf den Knopf drücken muss. Nach jedem fünften Mal kommt erst einmal ein ordentlicher Schwall kaltes Wasser. Robert Habecks feuchter Traum! Aber wenigstens ist der Strahl kräftig.

Enni lernt Finnisch
Trotz einer eher kurzen Nacht, ist unsere Tochter nun hoch motiviert Finnisch zu lernen.
Initial war ein halbstündiger Auftritt mit einem muttersprachigen Clown auf der Fähre im Rahmen des Kinderanimationsprogramm, während dem es Enni entweder nicht gelang zu vermitteln, dass sie kein Wort versteht oder das Bedürfnis „cool“ zu sein über die Scham siegte. Ich werde es nie erfahren, aber ich habe Hochachtung vor Ennis Willen zu unterhalten.

Enni lernt zaubern auf Finnisch!

Ennis wichtigster Satz: EN YMMÃRRÃ SITÄ – Ich verstehe das nicht.

Helsinki ist ansonsten einfach unbedingt liebenswert. Es ist bezaubernd wie Paris, sauber und grün wie Hamburg, lustig wie Köln, etwas weniger abgründig als Wien, irgendwie doch auch schräg, dabei aber nie angestrengt hipp – entschuldige, Berlin! Und überall ist schöne Schrift. Wenn ich mich beim Anblick der geschmückten Laternen schon etwas verguckt hatte, war es spätestens beim Betreten der Kinderbibliothek um mein Herz geschehen. Ach, Helsiniki, Du spröde Schöne, wärst Du doch nur nicht so teuer!

Zum Schluss noch ein kleines Quiz! Der Gewinner kriegt eine Tüte Lakritze. Was denkt Ihr, was dieses Holzschaf kostet? Aber nicht schummeln, nix hier Google Lens! Das zählt nicht! Schätzt doch mal.

Willkommen bei den Seelenvögeln

Vier Jahre haben wir gewartet. Als es den finnisch-stämmigen Teil unserer Familie das letzte Mal gen Heimat zog, waren unsere Mädchen noch nicht flügge. Und angesichts langer Autofahrten bei Tempo 80 auf schier endlosen Landstraßen, Regen, Enge im Wohnmobil und Mücken, hatten wir auf die Reise verzichtet. „Kann man ja dann mal nachholen!“, dachten wir. Dann kam Corona. Und jetzt, da das Stop-und-Go auf der Pandamiespur endlich überwunden schien, tja, jetzt kommen die Russen. Oder auch nicht. Schließlich ist Finnland nun auch (fast) Nato-Land. Das wollte Russland mit Gesten der Einschüchterung wie der Verlagerung von Truppen an die finnische Grenze in den letzten Wochen verhindern, oder wohl vielmehr verzögern. Ach, ehrlich keine Ahnung, was das sollte! Wirklich ein eher schwacher Versuch, wenn man die Unerschütterlichkeit und Sturheit der Finnen bedenkt.
Wann immer ich mit meiner Schwiegermutter über die Gesamtsituation in den letzten Wochen sprechen wollte, hat sie abgewunken und lapidar erklärt: „Finnland ist seit über 100 Jahren unabhängig! Da passiert nichts.“ So viel zur Gelassenheit der Finnen, insbesondere wohl der Karelier. Der Bewohner dieses Landstriches, der zerstückelt nach dem letzten großen Krieg, an der Grenze zu Rußland liegt. Dahin, oben in den nördlichen Teil, führt unsere Reise.
Nur auf Recep Tayyip Erdoğan sollte man meine Schwiegermutter zur Zeit nicht ansprechen.

Mir, als Bio-Deutsche, wird dann doch etwas flau angesichts solcher Bilder und der Aussicht, dass wir in Zeiten reisen, in denen man beim Rafting besser nicht auf den falschen Seitenarm des Flusses biegt. Es herrscht Krieg in Europa. Letztens erst riet der Verlag, bei dem mein Mann arbeitet, allen Mitarbeitern dringend von Reisen nach Russland ab, da der gesamte Verlag dort als „unerwünschte Organisation“ gilt.
Wir reisen trotzdem! Wir wollen, dass unsere Kinder die Heimat ihrer Großmutter kennenlernen und vielleicht etwas von diesem „Sisu“ verstehen, das das finnische Volk auszeichnet.

„Sisu“, das ist die Haltung des finnischen Volkes, die es zum Überleben brauchte. Sie wird mit „Mut“, „Ausdauer“ oder „innerer Stärke“ übersetzt. Übersetzungen für einen Lebensstil greifen immer etwas kurz, was beim Durchdeklinieren des skandinavischen „Hygges“ durch die verschiedenen Markenting- und Sales-Maßnahmen für Konsumgüter des „Es-sich-muckelig-Machens“ schön zu beobachten ist.
Das Thema „Sisu“ füllt sogar schon Bücher. Mein Mann hat mir eines geschenkt, das man wohl ungestraft an eine Ode an die finnische Kultur bezeichnen darf. „Sisu“ von Katja Pantzar ist 2018 im Lübbe Verlag mit der ISBN 978-3-431-04093-7 erschienen. Es liefert viele Einblicke in die finnische Kultur und wird mich in den nächsten Wochen auf unserer Reise begleiten.

Unser Reiseführer zu mehr innerer Stärke.


Neben diesem Sachbuch wird uns ein weiteres Buch auf unserer Reise begleiten: Wir wollen mit dem finnischen Nationalepos „Kalevala“ eintauchen in die finnische Mythologie. Vögel spielten im Volksglauben der alten Finnen eine große Rolle. „Vögel brachten die Seele eines Menschen im Moment der Geburt zum Körper und nahmen sie im Moment des Todes weg.“ So findet man auch heute noch in Karelien die „Sielulintu“, die Seelenvögel. Dies sind hölzerne Figuren, die die Seelen der Schlafenden in der Nacht davor schützen, sich zu verirren. Wir freuen uns, wenn Ihr uns auf der Suche nach unseren „Sielulintu“ begleitet.

Wie „Seelenvögel“ klingen.