Tag 14 Porvoo: Materialismus und Sushi

Unser erster Stopp in Porvoo ist der Lagerverkauf von Brunberg, einer finnischen Süßigkeitenfabrik. Karkki tai kepponen! Hier gibt es B-Ware zu leicht ermäßigten Preisen und wir schleppen Tüten mit Lakritz und Trüffeln zurück zum Camper. Mitbringsel und Weihnachtsgeschenke. Natürlich. Hoffentlich! Oh, ich weiß es nicht. Freunde, bitte fordert Euer Mitbringsel ein, sonst endet das in einem totalen Zuckerschock!

Dann finden wir tatsächlich einen kostenfreien Parkplatz für unser Wohnmobil fußläufig zur malerischen Altstadt von Porvoo. Die bunten Holzhäuschen sind ein Touristenmagnet. Das Santorini Finnlands. Eine bunte Mischung aus Cafés, Handarbeitsläden, Kleinkunst und Krimskrams. Eine perfekte Kulisse für Selfies!

In Porvoo begegnen wir ihnen dann auch zum ersten Mal. Es sind Familien, wie den Influencer-Profilen auf Instagram entstiegen. Die Kinder tragen fleckenfreie weiße Leinenhosen, Seitenscheitel und der Vater den Louis Vuitton Rucksack der Mutter. Es blendet, glitzert und blinkt. Karat um Karat. Am Menschen muss alles herrlich sein! Vielleicht ist genau das die Aussage: „Wir sind sauber.“ Dabei wissen alle, das ist gelogen. Niemand von uns ist das.
Aber an all jene die Kritik an der „westlichen Haltung“ im Ukraine-Krieg mit Kapitalismuskritik verwechseln: Viel weiter kann man nicht daneben liegen.
Mittags entscheiden wir uns gegen das szenige Restaurant mit dem deutschen Namen und der englischen Karte. Wir entdecken, etwas abseits gelegen, ein Sushi-Restaurant mit Buffet mit einem unschlagbaren Preis-Leistungsverhältnis. An der Tür klebt die Aufforderung: Bewerten Sie uns auf WOLT.

Wir sind satt, als wir auf dem Rastila in Helsinki ankommen. Pixie ruft begeistert: Ab jetzt erleben wir die Reise rückwärts! Ich teile ihre Begeisterung. Wir sind alle müde und voller Eindrücke. Wir freuen uns auf zu Hause.

Rastila in Helsinki: Bild für meinen Papa.

Tag 10 -13 Gewitter und Abschied aus Lieksa

So ziehen die Tage so dahin. Wir sind eingehüllt vom Strahlen der Natur. Bis sich der ganze Sommerglanz in einem heftigen Gewitter entlädt. Der Sturm kommt nachts. Erlebt man Gewitter im Campingbus immer so unmittelbar? Ist der Donnergott hier oben im Nordosten einfach erfahrbarer? Nie zuvor habe ich Gewittergrolllen mit meinem Körper gespürt. Für einen kurzen Moment bekomme ich Herzrasen. Meine Sorgen gelten dem Camper. Sind alle Luken geschlossen? Die Schotten dicht? Ist das ein Tropfen? Tropft es drinnen oder draußen?
Die Kinder sind auch wach. Ich erklimme ihren Alkoven und wir erzählen uns Götter-Geschichten, bis uns das Rauschen der Kiefern wieder in den Schlaf wiegt. Wieder wach, von allen Seiten getreten. Meine zwei Riesenbabys versuchen in mich hineinzukriechen im Traum. Also flüchte ich zurück auf meinen schmalen Schlafstreifen bei Kimmo. Die Wonnen des Campings!
Immerhin liefert uns der skandinavische Regen, der auch noch am nächsten Tag andauert, einen Vorwand die örtlichen Sanitäranlagen zu boykottieren. Wir spielen Insel! Keiner verlässt den Camper für 24 Stunden. Kimmo hält nicht durch und geht mit seinen Eltern nachmittags auf ein Konzert. Tja! Verloren.

Als ich am Sonntag aus dem Camper krieche, ist es kalt, aber der Himmel ist klar. Wir versuchen die öffentlichen Konzerte der Blechbläser-Woche in Lieksa zu besuchen, landen aber letztlich wieder im Citymarket und in unserem Stammlokal. Wir erweitern unseren Finnischen Wortschatz.

Um unser kulturelles Gewissen zu beruhigen, besichtigen wir die Kirche in Lieksa.
Im Entree der Kirche begrüßt uns eine Schülerin. Sie ist in ihrem letzten Schuljahr. Im nächsten Jahr will sie auf die Polytechnische Hochschule wechseln, um irgendetwas mit Medien zu studieren. Das ist ihr Ferienjob: Touristen durch die Kirche führen, dabei auf Sauberkeit und Ordnung achten. Auf die Frage, ob sie selber denn sehr gläubig sei, antwortet sie aufrichtig. Nein, sie gehe nur einmal im Jahr in die Kirche. Sie möge einfach die Stille und spräche viele Sprachen, deswegen sei das ein guter Job für sie. Ich nicke. Sie greift zu Besen und Handschaufel, als wir das Kirchenschiff betreten. Unsere Mummo übernimmt die Führung.

Abends ist es Zeit Abschied zu nehmen vom See. Danke für Deine Gastfreundschaft, Deine Farben und Deinen weiten Horizont. Wir reisen morgen über Joensuu und Porvoo zurück nach Helsinki.

Tag 9 Sonne am See

Das Jedermannsrecht in Finnland ist eine feine Sache. Stark vereinfacht besagt es, dass Jeder – unabhängig von Pronomen, Staatsangehörigkeit oder Alter – die Natur genießen darf. „Wildes Campen“, Beeren sammeln, Bootfahren und Angeln sind mit einigen Ausnahmen erlaubt. Kinder, also die unter 18 Jahren, dürfen sowieso fast alles. Das finnische Umweltministerium hat ein übersichtliches PDF zu den Regelungen rund um das Jedermannsrecht in Finnland erstellt. Elektronische Kommunikation können die Finnen!

Beeren sammeln
Überall im Wald rund um den Campingplatz wachsen reife Blaubeeren. Allerdings wächst dort auch die schwarze Krähenbeere. Die Beeren sehen den Blaubeeren sehr ähnlich und sind zwar nicht giftig, aber auch nicht so richtig lecker.
Die wilden Blaubeeren haben nur wenig mit den kultivierten Blaubeeren zu tun, die wir aus unseren Gärten kennen. Sie sind viel kleiner, mal sauer, mal süß. Vergleichbar vielleicht eher mit der Preiselbeere, aber doch anders. Wir pflücken zwei Stunden. Die meisten Beeren landen direkt im Bauch.
Am Ende kaufe ich Blaubeeren an einem Stand in Lieksa von einer sehr netten Vietnamesin. Ich koche Blaubeer-Marmelade, die alle lieben. Im Citymarket finde dann professionelles Blaubeerpflückzubehör.

Erlaubt ist es auch, alles zu pflücken, was grasartig wächst. Die Mädchen schenken mir Blumensträuße aus schmalblättrigem Weidenröschen, Labkraut, Lupinen, Schafgarbe, Mädesüß und Margeriten. Das wächst hier alles wild und üppig. Finnland ist wahrlich ein reiches Land!

Angeln
Reich auch an Fischgründen. Pixie hat sich im Outdoor-Shop eine einfache Angelrute gekauft. Nachdem drei Erwachsene trotz diverser Tutorials an der Montage der Leine scheitern, laufe ich zur Rezeption des Campingplatzes. Als mich der Betreiber des Campingplatzes entdeckt, wie ich hoffnungslos verheddert in der Leine, mit dem Angelhaken verfangen in meinen Haaren, beim Versuch scheitere, mit der Angel in sein Büro zu gehen, reagiert er mit einem finnischen Gefühlsausbruch. Er lächelt und das Lächeln erreicht sogar seine Augen.
Dann entheddert er erst mich und dann eine halbe Stunde stoisch die Leine. Etwas weniger geduldig stehe ich daneben und monologisiere hin und wieder auf Englisch vor mich hin.
Was im Anschluss beginnt, lässt sich zu Recht als große Leidenschaft beschreiben: Pixie und das Angeln.
Am ersten Abend fangen die Kinder drei Barsche und eine Brasse. Alle ingesamt klein, aber der Spaß ist riesig. Anfragen der Verwandtschaft, ob die Fische sich nicht auch gegrillt gut machten, werden vehement zurück gewiesen. Der Moment, in dem die munteren Kameraden wieder in den See springen, ist fast so schön wie der Erfolg beim Fischen.

Einen Lachs grillen wir dennoch. Ich kaufe „einen richtig großen Oschi“ für 25 Euro im Citymarket, meiner neuen zweiten Heimat. Die Männer bereiten ihn über Birkenholz auf der Feuerstelle zu. Wir essen, während im Westen hinter dem Sägewerk die Sonne eines ihrer Abschiedsspektakel aufführt.

Tag 7 – Paateri und Polka

Wir sind wieder auf der Straße. Diesmal unter erschwerten Bedingungen. Die Landstraße nach Paateri gleicht eher einer Schotterpiste. Da ist es das „alte Finnland“. An der Straße stehen vergessene Milchhäuschen in Mitten von Wald.
Das Geschirr in den Schränken hüpft im Takt zu „Jukka Poika“. Die Finnen schaffen es, dass sich sogar Reggae schwermütig anhört. Trotzdem fügt sich das Finnische erstaunlich anschmiegsam in den exotischen 4/4 Takt. Diese Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen ist eben auch typisch finnisch.

In Paateri erwartet uns Außergewöhnliches. Urfinnische Handwerkskunst. Seit unserer Ankunft gestern riecht alles nach Holz. Der Campingplatz mit seinen kleinen Mökkis, Campinghütten aus massivem Holz, liegt in Sichtweite eines Sägewerks in einem Fichtenwald. Die Wasserwerfer, die das Holz auf der anderen Uferseite benässen, laufen Tag und Nacht. Ihre Fontänen leuchten in der Abendsonne kupfer. Dieser Bruch unterstreicht die Idylle erst.
Die Künstlerin, Eva Ryynänen, hat hier in Karelien, im Nord-Osten Finnlands in perfekter Symbiose mit der Natur gelebt. Die Finnin erinnert mich auf manchen ihrer Portraits an Astrid Lindgren. Beide Frauen eint nicht nur die Liebe zur Kunst, sondern auch ein Lebensweg, auf dem sich diese Leidenschaft stetig weiter ausprägt. Ein Werdegang, der zur Vervollkommnung führt, weil er ihrer inneren Stimme folgt.

Eva Ryynänen wächst in einer Bauern Familie auf. Eine Familie wie die unserer Mummo. Bereits als Kind schnitzt Eva Spielzeug und Figurinen aus Holz. Mit 18 Jahren schnitzte sie die „Gebrüder auf dem Teufelsstein“. Die Skulptur beruht auf dem Buch „Sieben Brüder“ von Aleksis Kivi. Eine düstere Geschichte über sieben ungleiche Brüder, die auf der Schwelle zum Erwachsenenalter in die Wildnis ziehen und dort zehn Jahre überleben.

Mit diesem Werk bewirbt sich Eva am Ateneum in Helsinki. Dort studiert sie ab 1934 fünf Jahre lang Kunst. Während des zweiten Weltkriegs lernt Eva ihren Mann Paavo kennen. 1944 heiratet Eva und zieht in den Geburtsort ihres Mannes, Paateri in der Nähe von Lieksa.
Sieben Jahre lebt das Paar in einer Sauna am See. Das Wohnhaus stellen sie im Jahr 1957 fertig.

Beide leben über 30 Jahre lang hauptsächlich von der Landwirtschaft. Doch Eva gibt ihre Berufung nicht auf. Sie schnitzt nebenbei, wann immer sie Zeit dazu findet. Sie stellt weiter aus.
Erst im Alter von 61 Jahren wird Eva hauptberuflich Bildhauerin. Ihr Mann Pavvo unterstützt sie als Hilfskraft. Sie bereisen die Welt dank Evas Kunst. Im Jahr 1998 erhält Eva die Ehrendoktorwürde für ihr Lebenswerk.

Eva stirbt im Oktober 2001. Ihr Mann folgt ihr drei Monate später. Sie liegen unter zwei Fichten begraben. Den weißen Schutzengel hat Eva aus Marmor in den 90er Jahren erschaffen.

Evas Mut strahlt. Ihr Werk zeugt von Klarheit und Entschlossenheit. Diese Stätte entwickelt einen Sog, der auch unsere Kinder gefangen nimmt. Pixie wird zwei Tage später mit ihrer ersten Skulptur beginnen. Ein Holzzwerg als Grundpfeiler für die Kirche, die sie uns bauen will. Enni sieht mich an und stellt einmal mehr fest: „Meine Leidenschaft ist das Schauspielern. Ich werde auch nicht aufgeben; Mama!“ Auf diesen „Mäki“ aus Überzeugung möget Ihr Euer Leben bauen, Kinder!

Auf dem Rückweg nach Lieksa singt „Jukka Poika“:

Sä oot silkkii mun sylissäni
Niin kuin lämmin vesi, joka lainehtii
Yhdestä puusta meidät veistettiin
Päästä varpaisiin
Sä oot silkkii mun sylissäni
Niin kuin lämmin vesi, joka läikehtii Sama virtaus, taivas ja maa
Du bist überall auf meinem Schoß wie das warme Wasser, das fließt
Wir wurden aus einem Baum geschnitzt
Von Kopf bis Fuß
Du liegst seidig in meinen Armen Wie warmes Wasser, das glitzert Gleicher Fluss, Himmel und Erde

Ich denke an Eva und an Pavvo und spüre wie ihre Liebe als Idee in mir lebendig bleibt.

Am Nachmittag kehren wir zurück zum Ursprung. Wir besuchen Elmar, Kimmos Tante, in Lieksa. Sie wohnt Unweit vom Elternhaus unserer Mummo in einem typischen Mehrfamilienhaus. Es gibt keine Klingeln, dafür eine Namenstafel im Gang. Wenn abends die Eingangstür abgeschlossen ist, muss man Steinchen werfen. Oder man ruft eben an, auch in Lieksa benutzen natürlich alle schon Handys. Wieder ist die Wohnung im Handumdrehen voller Verwandter. Mervi, eine weitere Schwester, Laari, ein Cousin mit Frau, Kimmos Bruder mit seinen Kindern, Mummo und Ukki füllen die zwei kleinen Zimmer plus Balkon.

Wir essen Karjalan Piirakka mit Ei-Butter. Ein vollkommenes Gericht aus wenigen, einfachen Zutaten. Ich kenne keine andere Speise, die mich so heimelig und geborgen fühlen lässt in dieser Ausgewogenheit von saurem Vollkornroggenteig und süßem Milchreis, der zusammengebacken diese Sämigkeit ergibt. Ja, wie Seide am Gaumen. Abgerundet von der salzigen Ei-Butter… Oh, Du heilige Pirogge! Wie ich Dich liebe.
Nach dem Essen spülen die Schwestern in der Küche ab. Hier ist von der angeblichen Wortkargheit der Finnen nichts mehr zu spüren. Sie lachen, fallen sich ins Wort und necken einander. Ich verstehe kein Wort, bin aber froh über den Anblick. Kimmo trägt mit seinem Cousin eine Tür in den Keller und schickt mir ein Foto.

Ich frage Mervi nach dem Bunker im Keller. Sie antwortet mir: „Ja. Wie gehst Du mit einem Nachbarn um, den Du nicht magst?“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich versuche ihn zu ignorieren?“ „Nein“, antwortet Mervi. „Du tanzt mit ihm, bist aber vorbereitet.“ Ich nicke anerkennend, dann schnappe ich mir das Geschirrhandtuch.
Mervi schaltet das Radio an. Wir tanzen Polka in der Küche. Der Tag endet wieder mit einem dieser Sonnenuntergänge.

Vieles wirkt heute in mir nach. Was für eine Kraft diese Schwestern verbindet, dass ihr Band und nun schon über tausende Kilometer über so lange Zeit besteht! Und natürlich die Verbindung von Eva und Pavoo. Das Wichtigste auf der Welt ist die Liebe. Oder um Eva Ryynänen zu zitieren, nach der Aussage ihres Werkes befragt: „Das Land ist mein Ausgangspunkt. Der Mensch wächst aus dem Land, ist eins mit der Natur. Wir sind dazu bestimmt, auf diesem Planeten zu leben, auf dem Frauen ihre Kinder mit Milch gebären und großziehen – und wofür? Um glücklich zu sein, denke ich.“

Tag 4 und 5, Lahti und Familientreffen

Zuerst einmal, liebe Sportsfreunde, Kommentatoren und Ski-Springgemeinde, es heißt „Lachti“! Auch wenn es Lahti geschrieben wird, ist das „a“ kurz und das „h“ wird zu „ch“. Die Aussprache von Finnischen Orten und Namen ist ein Dauerthema in unserer erweiterten Kernfamilie. „Es wird doch fast alles einfach so ausgesprochen, wie es auch geschrieben wird.“, pflegt meine Schwiegermutter zu sagen. „OU“ wird eben hintereinander wie „O“ und „U“ ausgesprochen. „Und wenn man zwei Konsonanten schreibt, dann will man die doch auch hören. Sonst braucht man sich die Mühe doch gar nicht erst zu machen!“ Ich habe mir angewöhnt, einfach viel zu nuscheln. Dann weiß man nicht, ob es Unfähigkeit oder nur ein Sprachfehler ist.

„Bitte den Hund anleinen!“ „Es besteht keine Notwendigkeit hier mit dem Fahrzeug anzuhalten!“

Heute lernen Enni, Pixie und ich also die große Familie von finnischer Seite kennen – in Lahti. Unsere Mummo hatte zehn Geschwister, von denen ein Großteil nicht mehr lebt. Der Rest hat sich aus Karelien über ganz Finnland und die halbe Welt verteilt. Über 20 Verwandte finden sich trotzdem aus allen Landesteilen heute ein. Vielleicht auch weil allen klar ist, dass es nicht mehr allzu viele Reisen meiner Schwiegereltern in dieser Art geben wird. Seit mein Schwiegervater dieses finnische Mädchen, das damals in Hamburg als Aupair arbeitete, in der Mitte der 60er Jahre kennengelernt hat, hat er sie regelmäßig zurück gebracht in die Heimat. Mein Mann hat in Finnland die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht. Aber wahrscheinlich ist dieses sogar das letzte Mal, dass man so zusammenkommt. Umso mehr rührt mich dieser Einsatz der vermeintlich so kühlen Finnen. In Deutschland hätte das so nicht geklappt. Da bin ich mir sicher. Aber vielleicht ergibt es eben einen anderen Zusammenhalt, wenn auf einer Fläche, die fast so groß ist wie Deutschland, nur ca. 5,5 Millionen Menschen leben. Davon gut zwei Drittel im Ballungsraum Helsinki-Tampere-Turku im Südwesten von Finnland.
Endlich lerne ich auch Kimmos Cousin „Kerkko“ kennen, dessen Eltern bei der Namenswahl bei seinem Bruder „Terror“ und ihm einen eigenen Standard in unserer – in dieser Hinsicht sehr einfallsreichen – Familie gesetzt haben. Ich neige mein Haupt in Ehrfurcht!

Die Kulisse für dieses Treffen kann malerischer nicht sein: Ein abgelegenes Restaurant auf der größten von drei kleinen Insel in einem See, die man nur über einen Steg vom Festland aus erreicht. Es wäre Bullerbü, wenn Bullerbü nicht schwedisch und das mit den Schweden und den Finnen nicht so eine Sache wäre. Es ist einfach ein skandinavischer Traum. Im historischen „Myllysaari Paviljong“ befindet sich das Restaurant „Kommodori“, wo wir leckeren Fisch und ordentliche Karjalanpiirakka essen.

Es fühlt sich an, als sei man zu Gast bei Freunden. So drehen sich die Gespräche dann schnell um vertraute Themen:

  • Die Spaltung der Gesellschaft durch die Pandemie und die Unsicherheit im Umgang mit „den Anderen“, „den Querdenkern“ und „den Alten“.
  • Ein Vakuum an konservativen Kräften der Mitte in der finnischen Gesellschaft, das Raum für Populismus schafft.
  • Die Landflucht, die die Wohnungsnot im Südwesten verstärkt, während der Nordosten stirbt, in den wir als nächstes reisen werden. Eine Entwicklung, die eben auch mit der Verleugnung oder einer eher einer sozialen Distanz zwischen dem alten und dem neuen Finnland einhergeht. Das neue Finnland des technologischen Fortschritts, des Wohlfahrtstaats, der Bildung und das alte Finnland der Tristesse, der relativen Armut und Perspektivlosigkeit, das schräge Gestalten ausgeprägter Individualität wie die Figuren des Aki Kaurismäki hervorbrachte.

Aber Kerkko winkt ab. Kaurismäki, das sei halt eine Persiflage. „Dieses Finnland gibt es nicht. Nicht mehr. In Lieksa!“, sagt er und lacht. „In Lieksa, da gibt es das noch!“

„Als der Krieg angefangen hat, da habe ich Dich angerufen, Kerkko. Wir haben überlegt, wo man jetzt hin soll. Wo ist es jetzt noch sicher?“, meint Iina, Kimmos Cousine. „Ja,“ antwortet Kerkko, „da dachten wir, wir fahren nach Lieksa, weil da nichts ist. Da ist nichts, was die Russen wollen.“ Kerkkos Lachen wird bitter. „Dann haben wir gesehen, was die Russen in der Ukraine machen. Jetzt wissen wir, man ist nirgendwo mehr sicher.“ „Ja, nicht solange es Waschmaschinen und Toiletten gibt!“, stimme ich zu. Wir lachen zusammen. Ich fühle mich erleichtert. Die Positionen hier in Finnland sind klar. Es gibt eine eindeutige Haltung zu Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, zur Nato und zum eigenen Land. Selbst bei Kerkko, dem ehemaligen Kommunisten, der sich 15 Jahre für den finnisch-russischen Austausch engagiert hat. Über die Jahre hat er enge Bande nach Russland geknüpft. Die Mutter seiner Tochter ist Russin. Es ist ihm wichtig festzuhalten: „Alle sprechen immer von Putins Krieg, aber ich sage, das stimmt nicht. Es ist ein Krieg der Russen. Sie sehnen sich nach einer lang vergangenen Zeit, die so nie existiert hat. Sie sehnen sich nach einer Illusion.“
Als seine Tochter ihn neulich gefragt hat, wo sie nach ihrem IT-Studium hingehen sollte, konnte er ihr nichts raten, fügt Kerkko noch hinzu. „Kanada, vielleicht …“

A cartoon by Liana Finck. #NewYorkerCartoons

Nicht nur die Themen vereinen die westlichen Gesellschaften, sondern auch ein gewisses Gefühl der Ratlosigkeit.

Abends auf dem Campingplatz Messilä denke ich, dass Kerkko Unrecht hat. Der Patz ist fest in finnischer Hand. Viele Dauercamper! Außer uns nur noch eine deutsche Reisegruppe aus Minden, sonst noch eine Handvoll Schweden und Norweger, aber wirklich nicht viele. Die deutschen Urlauber erkennt man an ihren Fleecejacken. Bei knapp 20 Grad und Nieselregen trägt der Finne auf dem Campingplatz T-Shirt. Auf der Wiese vor dem Strand ist ein großer Park aus Hüpfburgen aufgebaut. Die Kinder freuen sich. Beim Abspülen nach dem Abendbrot höre ich finnischen Schlager, mit dem die Terrasse des Bistros beschallt wird. Er klingt schwülstig und nach Fernweh.
Auf der Terrasse sitzen alleinstehende Damen und Herren einzeln an Tischen und trinken Bier. Sie schauen vor sich hin. Einige Herren tragen auch Hawaii-Hemden zur bunten Shorts. Das wirkt rührend deplatziert, eben sehr finnisch. Hier treffen sich das alte und das neue Finnland.

Für den nächsten Tag haben wir uns nichts vor genommen. Langsam beherrschen wir die Technik und so etwas wie Erholung setzt ein. Wir sind schon eine Woche unterwegs und haben noch keinen einzigen Mückenstich.

Tag 3 Helsinki – Ausflug nach Suomenlinna

Der Preis ist heiß

Hier die Auflösung: Dieser Design-Klassiker der Firma Aarikka ist 24 x 16,5 cm groß und kostet 516€. Aarikka stellt auch bezaubernde rote Holzzwerge her. Wir besitzen dank unserer finnischen Verwandtschaft zwei Stück, die ich in einem Tresor aufbewahre und nur zu Weihnachten herausnehme. Das ist auch der Grund, warum wir in der Adventszeit niemand in unser Haus lassen. Die Kette aus blauen Holzperlen liegt da auch, die mir feierlich nach der Geburt meines zweiten Kindes überreicht wurde. Nein, ganz so war es nicht, aber das nennt man künstlerische Freiheit. 😉

Doch wenn Ihr denkt, der Sprit in Deutschland sei teuer, dann herzlich Willkommen in Finnland.

Wir nutzen weiterhin lieber, wann immer es geht, die öffentlichen Verkehrsmittel. Die Metro in Helsiniki hat zwei Strecken, die teilweise sogar parallel verlaufen, wenn ich das nicht komplett falsch verstanden habe. Süß! Unsere Lieblingshaltestelle heißt „Siilitie“ oder auf Schweden „Igelkottsvägen“. Noch süßer! Die Kinder liegen immer halb unter dem Metrositz, wenn die Ansage kommt. „Die hat Igelkotze gesagt!“ „Jahaaa.“
Das läuft bei uns. Vom Markt am alten Fischhafen fährt übrigens auch eine kostenlose, also im Metro-Ticket inbegriffene, Fähre auf die Museumsinsel „Suomenlinna“. Eine alte Befestigungsanlage vor der Stadt.

Dort kann man:

  • Pulla, finnische Zimtschnecken, für 5€ oder Eis für 3,60€ pro Kugel essen.
  • ins Spielzeugmuseum gehen. Der Besuch der drei Räume mit Puppen kostet 20€.

Oder man kann:

  • lustige Fotos machen für 0€.
  • auf alte Kanonen klettern für 0€.
  • Gänsefedern sammeln für 0€.
  • Feen verfolgen für 0€.
  • spazieren gehen für 0€.

The best things in life are free. Während Ihr in Deutschland schwitzt, schalten wir die Heizung im Camper an. Es sind 16 Grad und uns ist kalt.

Tag 2 Ankunft in Helsinki

Rastila
Camping ist die Rückführung in eine steinzeitliche Lebensweise unter Zuhilfenahme modernster Technologie. Nach unserer Ankunft auf dem Rastila in Helsinki sind wir zunächst ständig mit dem Wohnmobil beschäftigt. Hier fehlt noch ein Tab, dort muss ein Ventil geöffnet werden, der Wagen gehört hoch gebockt, die Betten aufgestockt, die Luken müssen mit dem Mückengitter verschlossen, die Pumpe mag gestartet und sowieso alles gewartet werden.
Liebes Wohnmobil frag doch bitte nicht, was wir für Dich, sondern was Du für uns tun kannst.

Es hakt noch alles etwas. Um zu duschen, geht man dann eh lieber in eines der beigen Holzhäuser mit abschließbaren, geräumigen Kabinen. Die Duschen sind allerdings etwas für Energie-Optimierer. Der Duschkopf, fest montiert in ca. zwei Metern Höhe, sondert immer genau fünf Sekunden Wasser ab, bevor man wieder auf den Knopf drücken muss. Nach jedem fünften Mal kommt erst einmal ein ordentlicher Schwall kaltes Wasser. Robert Habecks feuchter Traum! Aber wenigstens ist der Strahl kräftig.

Enni lernt Finnisch
Trotz einer eher kurzen Nacht, ist unsere Tochter nun hoch motiviert Finnisch zu lernen.
Initial war ein halbstündiger Auftritt mit einem muttersprachigen Clown auf der Fähre im Rahmen des Kinderanimationsprogramm, während dem es Enni entweder nicht gelang zu vermitteln, dass sie kein Wort versteht oder das Bedürfnis „cool“ zu sein über die Scham siegte. Ich werde es nie erfahren, aber ich habe Hochachtung vor Ennis Willen zu unterhalten.

Enni lernt zaubern auf Finnisch!

Ennis wichtigster Satz: EN YMMÃRRÃ SITÄ – Ich verstehe das nicht.

Helsinki ist ansonsten einfach unbedingt liebenswert. Es ist bezaubernd wie Paris, sauber und grün wie Hamburg, lustig wie Köln, etwas weniger abgründig als Wien, irgendwie doch auch schräg, dabei aber nie angestrengt hipp – entschuldige, Berlin! Und überall ist schöne Schrift. Wenn ich mich beim Anblick der geschmückten Laternen schon etwas verguckt hatte, war es spätestens beim Betreten der Kinderbibliothek um mein Herz geschehen. Ach, Helsiniki, Du spröde Schöne, wärst Du doch nur nicht so teuer!

Zum Schluss noch ein kleines Quiz! Der Gewinner kriegt eine Tüte Lakritze. Was denkt Ihr, was dieses Holzschaf kostet? Aber nicht schummeln, nix hier Google Lens! Das zählt nicht! Schätzt doch mal.