Tag 4 und 5, Lahti und Familientreffen

Zuerst einmal, liebe Sportsfreunde, Kommentatoren und Ski-Springgemeinde, es heißt „Lachti“! Auch wenn es Lahti geschrieben wird, ist das „a“ kurz und das „h“ wird zu „ch“. Die Aussprache von Finnischen Orten und Namen ist ein Dauerthema in unserer erweiterten Kernfamilie. „Es wird doch fast alles einfach so ausgesprochen, wie es auch geschrieben wird.“, pflegt meine Schwiegermutter zu sagen. „OU“ wird eben hintereinander wie „O“ und „U“ ausgesprochen. „Und wenn man zwei Konsonanten schreibt, dann will man die doch auch hören. Sonst braucht man sich die Mühe doch gar nicht erst zu machen!“ Ich habe mir angewöhnt, einfach viel zu nuscheln. Dann weiß man nicht, ob es Unfähigkeit oder nur ein Sprachfehler ist.

„Bitte den Hund anleinen!“ „Es besteht keine Notwendigkeit hier mit dem Fahrzeug anzuhalten!“

Heute lernen Enni, Pixie und ich also die große Familie von finnischer Seite kennen – in Lahti. Unsere Mummo hatte zehn Geschwister, von denen ein Großteil nicht mehr lebt. Der Rest hat sich aus Karelien über ganz Finnland und die halbe Welt verteilt. Über 20 Verwandte finden sich trotzdem aus allen Landesteilen heute ein. Vielleicht auch weil allen klar ist, dass es nicht mehr allzu viele Reisen meiner Schwiegereltern in dieser Art geben wird. Seit mein Schwiegervater dieses finnische Mädchen, das damals in Hamburg als Aupair arbeitete, in der Mitte der 60er Jahre kennengelernt hat, hat er sie regelmäßig zurück gebracht in die Heimat. Mein Mann hat in Finnland die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht. Aber wahrscheinlich ist dieses sogar das letzte Mal, dass man so zusammenkommt. Umso mehr rührt mich dieser Einsatz der vermeintlich so kühlen Finnen. In Deutschland hätte das so nicht geklappt. Da bin ich mir sicher. Aber vielleicht ergibt es eben einen anderen Zusammenhalt, wenn auf einer Fläche, die fast so groß ist wie Deutschland, nur ca. 5,5 Millionen Menschen leben. Davon gut zwei Drittel im Ballungsraum Helsinki-Tampere-Turku im Südwesten von Finnland.
Endlich lerne ich auch Kimmos Cousin „Kerkko“ kennen, dessen Eltern bei der Namenswahl bei seinem Bruder „Terror“ und ihm einen eigenen Standard in unserer – in dieser Hinsicht sehr einfallsreichen – Familie gesetzt haben. Ich neige mein Haupt in Ehrfurcht!

Die Kulisse für dieses Treffen kann malerischer nicht sein: Ein abgelegenes Restaurant auf der größten von drei kleinen Insel in einem See, die man nur über einen Steg vom Festland aus erreicht. Es wäre Bullerbü, wenn Bullerbü nicht schwedisch und das mit den Schweden und den Finnen nicht so eine Sache wäre. Es ist einfach ein skandinavischer Traum. Im historischen „Myllysaari Paviljong“ befindet sich das Restaurant „Kommodori“, wo wir leckeren Fisch und ordentliche Karjalanpiirakka essen.

Es fühlt sich an, als sei man zu Gast bei Freunden. So drehen sich die Gespräche dann schnell um vertraute Themen:

  • Die Spaltung der Gesellschaft durch die Pandemie und die Unsicherheit im Umgang mit „den Anderen“, „den Querdenkern“ und „den Alten“.
  • Ein Vakuum an konservativen Kräften der Mitte in der finnischen Gesellschaft, das Raum für Populismus schafft.
  • Die Landflucht, die die Wohnungsnot im Südwesten verstärkt, während der Nordosten stirbt, in den wir als nächstes reisen werden. Eine Entwicklung, die eben auch mit der Verleugnung oder einer eher einer sozialen Distanz zwischen dem alten und dem neuen Finnland einhergeht. Das neue Finnland des technologischen Fortschritts, des Wohlfahrtstaats, der Bildung und das alte Finnland der Tristesse, der relativen Armut und Perspektivlosigkeit, das schräge Gestalten ausgeprägter Individualität wie die Figuren des Aki Kaurismäki hervorbrachte.

Aber Kerkko winkt ab. Kaurismäki, das sei halt eine Persiflage. „Dieses Finnland gibt es nicht. Nicht mehr. In Lieksa!“, sagt er und lacht. „In Lieksa, da gibt es das noch!“

„Als der Krieg angefangen hat, da habe ich Dich angerufen, Kerkko. Wir haben überlegt, wo man jetzt hin soll. Wo ist es jetzt noch sicher?“, meint Iina, Kimmos Cousine. „Ja,“ antwortet Kerkko, „da dachten wir, wir fahren nach Lieksa, weil da nichts ist. Da ist nichts, was die Russen wollen.“ Kerkkos Lachen wird bitter. „Dann haben wir gesehen, was die Russen in der Ukraine machen. Jetzt wissen wir, man ist nirgendwo mehr sicher.“ „Ja, nicht solange es Waschmaschinen und Toiletten gibt!“, stimme ich zu. Wir lachen zusammen. Ich fühle mich erleichtert. Die Positionen hier in Finnland sind klar. Es gibt eine eindeutige Haltung zu Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, zur Nato und zum eigenen Land. Selbst bei Kerkko, dem ehemaligen Kommunisten, der sich 15 Jahre für den finnisch-russischen Austausch engagiert hat. Über die Jahre hat er enge Bande nach Russland geknüpft. Die Mutter seiner Tochter ist Russin. Es ist ihm wichtig festzuhalten: „Alle sprechen immer von Putins Krieg, aber ich sage, das stimmt nicht. Es ist ein Krieg der Russen. Sie sehnen sich nach einer lang vergangenen Zeit, die so nie existiert hat. Sie sehnen sich nach einer Illusion.“
Als seine Tochter ihn neulich gefragt hat, wo sie nach ihrem IT-Studium hingehen sollte, konnte er ihr nichts raten, fügt Kerkko noch hinzu. „Kanada, vielleicht …“

A cartoon by Liana Finck. #NewYorkerCartoons

Nicht nur die Themen vereinen die westlichen Gesellschaften, sondern auch ein gewisses Gefühl der Ratlosigkeit.

Abends auf dem Campingplatz Messilä denke ich, dass Kerkko Unrecht hat. Der Patz ist fest in finnischer Hand. Viele Dauercamper! Außer uns nur noch eine deutsche Reisegruppe aus Minden, sonst noch eine Handvoll Schweden und Norweger, aber wirklich nicht viele. Die deutschen Urlauber erkennt man an ihren Fleecejacken. Bei knapp 20 Grad und Nieselregen trägt der Finne auf dem Campingplatz T-Shirt. Auf der Wiese vor dem Strand ist ein großer Park aus Hüpfburgen aufgebaut. Die Kinder freuen sich. Beim Abspülen nach dem Abendbrot höre ich finnischen Schlager, mit dem die Terrasse des Bistros beschallt wird. Er klingt schwülstig und nach Fernweh.
Auf der Terrasse sitzen alleinstehende Damen und Herren einzeln an Tischen und trinken Bier. Sie schauen vor sich hin. Einige Herren tragen auch Hawaii-Hemden zur bunten Shorts. Das wirkt rührend deplatziert, eben sehr finnisch. Hier treffen sich das alte und das neue Finnland.

Für den nächsten Tag haben wir uns nichts vor genommen. Langsam beherrschen wir die Technik und so etwas wie Erholung setzt ein. Wir sind schon eine Woche unterwegs und haben noch keinen einzigen Mückenstich.