Tag 13 Rückreise Joensuu, Campingplatz Taavetti, Stille

Der frühe Vogel fängt den Wurm. Oder in unserem Fall: Das Birkenholzkörbchen. Seit unserer Ankunft jagen wir ihm hinterher: Dem perfekten Brotkorb. Kimmo verbindet mit dem Flechtwerk aus dünnem, weichem Birkenholzstreifen Kinderheitserinnerungen. Er ist der festen Überzeugung, dass jeder anständige, halb skandinavische Haushalt eines besitzen sollte. Aber wie das so ist mit den Kindheitsidealen: Die Gefahr ist groß, dass die Gegenwart im Vergleich abfällt. So ist kein Holz bisher weich genug, kein Korb hat die richtige Größe oder den richtigen Preis. Hinzu kommt: Die finnische Handwerkskunst des Birkenkorbflechtens ist im Verschwinden begriffen. Die Stände mit Korbwaren, die Kimmo von den Märkten seiner Kindheit kennt, es gibt sie nicht mehr.
Doch in Joensuu, dem Mekka für karelische Lebensart, da soll es sie geben die Stände voller Birkenflechtwerk.

Das ist, was wir begehren!

So brechen wir am Morgen extra früh auf in Lieksa. Das ist unserem Fall 9:00 Uhr. Um 11:00 Uhr erreichen wir Joensuu, was so viel wie Flussmündung bedeutet. Tatsächlich gibt es in der Ortsmitte ein Zentrum für karelische Handwerkskunst. Es ist beheimatet in zwei klassischen Holzhäusern und den dazu gehörigen Schuppen in der Ortsmitte. Leider werden hauptsächlich Textilien angeboten. Die Kinder decken sich mit finnischer Wolle in schönen Aqua-Tönen ein. Pixie entdeckt in einem Laden einen kleinen Bären, in den sie sich verliebt. Bisher haben wir eine Erweiterung des Kuscheltier-Zoos erfolgreich abgewehrt. Jetzt geben wir nach, obwohl wir bei genauerer Betrachtung merken, dass das Bärchen im Westfälischen Viersen produziert wird. Es lebe der europäische Binnenmarkt!

Auch auf dem Wochenmarkt in Joensuu werden wir nicht fündig, aber ich entdecke Lakka! Auch Wolken- oder Moltebeeren genannt. Ein Kilo kostet 20€. Die Beeren sind sehr selten. Sie wachsen nur in Moorgebieten in bestimmten Ländern der nördlichen Hemisphäre. Sie gelten als echtes Superfood, voller Antioxidantien und wichtiger Spurenelemente. Unsere Mummo sagt, wenn man beim Beerenpflücken in Finnland auf Lakka stößt, dann sperrt man seinen Mund zu, freut sich und spricht mit niemanden darüber. Noch nicht mal mit seinen Schwestern! Sie zwinkert. „Das ist wie eine Goldader!“
Den Mund zu verschließen, ruhig zu sein, scheint mir im Übrigen eine Kardinaltugend der Finnen zu sein. Selbst im geschäftigen Treiben des Wochenmarkts herrscht eine erstaunliche Stille. Als ich aus Freude über meinen Beerenfund, nach Kimmo rufe, dreht sich der halbe Platz zu mir um. Ich ernte vorwurfsvolle Blicke, nicht nur für meine Aussprache. Ich habe während unseres gesamten Aufenthalts in Finnland nicht eine Mutter nach ihren Kindern rufen hören. Wie machen die das?
Die Beeren sollen auf jeden Fall herrlich mit Vanille-Eis schmecken. Auch aus Korbfrust, schlage ich zu. Die nächsten drei Tage essen Kimmo und ich Lakka mit Vanille-Eis, weil unsere Kinder den eher dezenten Geschmack nicht zu schätzen wissen. So richtig überzeugt bin ich auch nicht. Die Beeren sind säuerlich und erinnern mich im Geschmack entfernt an Kaktusfeigen. Kimmo ist aber selig. Auf die Kindheit!

Eigentlich wollten wir den Campingplatz in Lappeenranta als Zwischenstopp zur Übernachtung nutzen. Doch wir disponieren kurzfristig um, nachdem ich mehrere abfällige Kommentare über die hygienische Situation der Sanitäranlagen im Internet gefunden habe. Das fehlt mir noch! Vom Regen in die Traufe kommen. Über Schotterstraßen erreichen wir den Campingplatz in Taavetti. Ein Ort, den selbst die Finnen in ihren Bewertungen für seine Ruhe loben. Das hätte mir zu denken geben sollen! Aber die Bilder der kleinen, aber feinen Duschen, haben alles überschattet.

Die günstigste Übernachtung bisher, aber man ist mitten im finnischen Nirgendwo. Außer den Besitzer sehen wir stundenlang niemanden, obwohl der Platz gut besucht ist. Wir stehen direkt neben einem Spielplatz, den nur unsere Kinder nutzen. Sie finden kleine Frösche und sind begeistert. Kimmo und ich sind befremdet, ob der absoluten Stille. Man hört nur das Rauschen der Birken und das Quaken der Frösche. Wenn wir ein Seil an einem der Bäume festgeknotet fänden, das uns tiefer in die Wildnis führte, wäre das nicht verwunderlich. Könnten wir dem Impuls widerstehen, das Ende des Seils zu suchen? Am nächsten Morgen entfliehen wir der gespenstischen Stille sehr zur Enttäuschung unserer Kinder und fahren weiter nach Porvoo.

Tag 10 -13 Gewitter und Abschied aus Lieksa

So ziehen die Tage so dahin. Wir sind eingehüllt vom Strahlen der Natur. Bis sich der ganze Sommerglanz in einem heftigen Gewitter entlädt. Der Sturm kommt nachts. Erlebt man Gewitter im Campingbus immer so unmittelbar? Ist der Donnergott hier oben im Nordosten einfach erfahrbarer? Nie zuvor habe ich Gewittergrolllen mit meinem Körper gespürt. Für einen kurzen Moment bekomme ich Herzrasen. Meine Sorgen gelten dem Camper. Sind alle Luken geschlossen? Die Schotten dicht? Ist das ein Tropfen? Tropft es drinnen oder draußen?
Die Kinder sind auch wach. Ich erklimme ihren Alkoven und wir erzählen uns Götter-Geschichten, bis uns das Rauschen der Kiefern wieder in den Schlaf wiegt. Wieder wach, von allen Seiten getreten. Meine zwei Riesenbabys versuchen in mich hineinzukriechen im Traum. Also flüchte ich zurück auf meinen schmalen Schlafstreifen bei Kimmo. Die Wonnen des Campings!
Immerhin liefert uns der skandinavische Regen, der auch noch am nächsten Tag andauert, einen Vorwand die örtlichen Sanitäranlagen zu boykottieren. Wir spielen Insel! Keiner verlässt den Camper für 24 Stunden. Kimmo hält nicht durch und geht mit seinen Eltern nachmittags auf ein Konzert. Tja! Verloren.

Als ich am Sonntag aus dem Camper krieche, ist es kalt, aber der Himmel ist klar. Wir versuchen die öffentlichen Konzerte der Blechbläser-Woche in Lieksa zu besuchen, landen aber letztlich wieder im Citymarket und in unserem Stammlokal. Wir erweitern unseren Finnischen Wortschatz.

Um unser kulturelles Gewissen zu beruhigen, besichtigen wir die Kirche in Lieksa.
Im Entree der Kirche begrüßt uns eine Schülerin. Sie ist in ihrem letzten Schuljahr. Im nächsten Jahr will sie auf die Polytechnische Hochschule wechseln, um irgendetwas mit Medien zu studieren. Das ist ihr Ferienjob: Touristen durch die Kirche führen, dabei auf Sauberkeit und Ordnung achten. Auf die Frage, ob sie selber denn sehr gläubig sei, antwortet sie aufrichtig. Nein, sie gehe nur einmal im Jahr in die Kirche. Sie möge einfach die Stille und spräche viele Sprachen, deswegen sei das ein guter Job für sie. Ich nicke. Sie greift zu Besen und Handschaufel, als wir das Kirchenschiff betreten. Unsere Mummo übernimmt die Führung.

Abends ist es Zeit Abschied zu nehmen vom See. Danke für Deine Gastfreundschaft, Deine Farben und Deinen weiten Horizont. Wir reisen morgen über Joensuu und Porvoo zurück nach Helsinki.

Tag 6 Landstraße nach Lieksa – Kloster Valamo

Sie sind Fan von „Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands“? Dann werden Sie „Die endlosen Landstraßen Finnlands“ lieben! Wir reisen mit dem Wohnmobil von Lahti nach Lieksa. Die Höchstgeschwindkeit von 120 km/h reizen wir nie ganz aus, weil unser Wohnmobil schon bei 95 km/h beachtlich ins Schlingern gerät, auch wenn Kimmo das nicht zugeben möchte.
Die meisten Straßen sind einspurig, oft darf man auch noch 80 km/h fahren und alle zwei Kilometer steht ein Blitzer. Die Finnen nehmen das sehr ernst mit dem Tempolimit. Ich zähle die Schilder, die vor marodierenden Elchen warnen, deren Häufigkeit zunimmt, je weiter wir gen Norden fahren.
Es gibt übrigens Elchtouren, die Touristen buchen können. Man fährt dann in eine Hütte im Wald und wartet Tage bis ein Elch kommt. Einheimische setzen sich einfach auf einen Stuhl an eine Lichtung und warten ein bis zwei Stunden, meint Kimmos Cousin. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich damit auf den Arm nehmen wollte.

Gegen Mittag rasten wir im Kloster Valamo. Kurz bevor wir es erreichen, frage ich mich, wie ein Kloster in dieser zerklüfteten Moorlandschaft zwischen tausend Seen und noch mehr Wäldern wohl aussieht. Ich stelle mir ein paar große Blockhütten vor. Rustikale Häuser mit Männern, deren Gesichter von Wetter und Witterung gegerbt sind. Thoreau kommt mir in den Sinn.

Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben und nur den wesentlichsten Dingen des Lebens gegenüberstehen. Ich wollte versuchen, ob ich nicht seine Weisheiten empfangen könnte, damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte. Nichts anderes als das Leben wollte ich leben. Das Leben ist so kostbar. Wenn es irgend möglich war, wollte ich nicht verzichten. Intensiv leben wollte ich, das Mark des Lebens in mich aufsaugen. Hart und spartanisch wollte ich leben, um alles auszurotten, was nicht Leben war, einen breiten Schwaden zu schlagen dicht über dem Boden.“ (Walden)

Kannte Thoreau Finnland? Ich werde zukünftig „Walden“ nicht mehr ohne dieses Land denken können.
Dann zeigt sich uns das Kloster auf einem Hügel mit leuchtend weißen Kuppeln. Die Sonne scheint und einen Moment sind wir in Griechenland. Die bierbäuchigen Mönche in schwarzen Roben erinnern eher an die Hohenpriester antiker Bacchanale als an asketische Selbstgeißelung.


Das Kloster Uusi Valamo war ursprünglich ein russisch orthodoxes Kloster. Es ist das einzige orthodoxe Männerkloster in Finnland. Seit Ende der 70er Jahre wird dort finnisch gesprochen, um sich den finnisch-orthodoxen Christen zu öffnen. Die Mönche keltern Wein und brauen Kotikalja. Ein Dünnbier, das wir uns ordentlich schmecken lassen, bevor wir weiter fahren. Es soll die die Verdauung beleben, so heißt es. Ohne allzu sehr ins allzu Menschliche abzurutschen, möchte ich anmerken, dass mir diese Wirkung nach einer Woche Camping durchaus gelegen käme. Das Campen und ich, das ist ein Thema für sich.
Die Mönche verkaufen in ihrem Shop selbst gekelterten Wein, regionale Handwerkserzeugnisse und handbemalte Ostereier aus der Ukraine. Der Erlös der Ostereierei wird gespendet. Als ich einen der Verkäufer anspreche, wohin die Gelder fließen, erklärt er, dass sie Einnahmen an geflohene Gläubige aus der Ukraine gingen. „We are Finnisch. We are against the war.“, setzt er nach. Angesichts der zahlreichen russisch sprachigen Besucher eine erstaunlich offene und eindeutige Erklärung.

Wir fahren weiter. Ich meckere die ganze Zeit, Kimmo versucht trotzdem Schwerlastzüge und Holztransporter zu überholen. Das werden auch immer mehr, je weiter nördlich wir kommen Ein ganz normaler Familienurlaub halt!

Am Abend kommen wir an. Lieksa belohnt unsere Mühen mit einem dieser spektakulären Sonnenuntergänge, wie es sie nur hier oben im Nordosten gibt. Immer noch kein einziger Mückenstich!

Tag 4 und 5, Lahti und Familientreffen

Zuerst einmal, liebe Sportsfreunde, Kommentatoren und Ski-Springgemeinde, es heißt „Lachti“! Auch wenn es Lahti geschrieben wird, ist das „a“ kurz und das „h“ wird zu „ch“. Die Aussprache von Finnischen Orten und Namen ist ein Dauerthema in unserer erweiterten Kernfamilie. „Es wird doch fast alles einfach so ausgesprochen, wie es auch geschrieben wird.“, pflegt meine Schwiegermutter zu sagen. „OU“ wird eben hintereinander wie „O“ und „U“ ausgesprochen. „Und wenn man zwei Konsonanten schreibt, dann will man die doch auch hören. Sonst braucht man sich die Mühe doch gar nicht erst zu machen!“ Ich habe mir angewöhnt, einfach viel zu nuscheln. Dann weiß man nicht, ob es Unfähigkeit oder nur ein Sprachfehler ist.

„Bitte den Hund anleinen!“ „Es besteht keine Notwendigkeit hier mit dem Fahrzeug anzuhalten!“

Heute lernen Enni, Pixie und ich also die große Familie von finnischer Seite kennen – in Lahti. Unsere Mummo hatte zehn Geschwister, von denen ein Großteil nicht mehr lebt. Der Rest hat sich aus Karelien über ganz Finnland und die halbe Welt verteilt. Über 20 Verwandte finden sich trotzdem aus allen Landesteilen heute ein. Vielleicht auch weil allen klar ist, dass es nicht mehr allzu viele Reisen meiner Schwiegereltern in dieser Art geben wird. Seit mein Schwiegervater dieses finnische Mädchen, das damals in Hamburg als Aupair arbeitete, in der Mitte der 60er Jahre kennengelernt hat, hat er sie regelmäßig zurück gebracht in die Heimat. Mein Mann hat in Finnland die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht. Aber wahrscheinlich ist dieses sogar das letzte Mal, dass man so zusammenkommt. Umso mehr rührt mich dieser Einsatz der vermeintlich so kühlen Finnen. In Deutschland hätte das so nicht geklappt. Da bin ich mir sicher. Aber vielleicht ergibt es eben einen anderen Zusammenhalt, wenn auf einer Fläche, die fast so groß ist wie Deutschland, nur ca. 5,5 Millionen Menschen leben. Davon gut zwei Drittel im Ballungsraum Helsinki-Tampere-Turku im Südwesten von Finnland.
Endlich lerne ich auch Kimmos Cousin „Kerkko“ kennen, dessen Eltern bei der Namenswahl bei seinem Bruder „Terror“ und ihm einen eigenen Standard in unserer – in dieser Hinsicht sehr einfallsreichen – Familie gesetzt haben. Ich neige mein Haupt in Ehrfurcht!

Die Kulisse für dieses Treffen kann malerischer nicht sein: Ein abgelegenes Restaurant auf der größten von drei kleinen Insel in einem See, die man nur über einen Steg vom Festland aus erreicht. Es wäre Bullerbü, wenn Bullerbü nicht schwedisch und das mit den Schweden und den Finnen nicht so eine Sache wäre. Es ist einfach ein skandinavischer Traum. Im historischen „Myllysaari Paviljong“ befindet sich das Restaurant „Kommodori“, wo wir leckeren Fisch und ordentliche Karjalanpiirakka essen.

Es fühlt sich an, als sei man zu Gast bei Freunden. So drehen sich die Gespräche dann schnell um vertraute Themen:

  • Die Spaltung der Gesellschaft durch die Pandemie und die Unsicherheit im Umgang mit „den Anderen“, „den Querdenkern“ und „den Alten“.
  • Ein Vakuum an konservativen Kräften der Mitte in der finnischen Gesellschaft, das Raum für Populismus schafft.
  • Die Landflucht, die die Wohnungsnot im Südwesten verstärkt, während der Nordosten stirbt, in den wir als nächstes reisen werden. Eine Entwicklung, die eben auch mit der Verleugnung oder einer eher einer sozialen Distanz zwischen dem alten und dem neuen Finnland einhergeht. Das neue Finnland des technologischen Fortschritts, des Wohlfahrtstaats, der Bildung und das alte Finnland der Tristesse, der relativen Armut und Perspektivlosigkeit, das schräge Gestalten ausgeprägter Individualität wie die Figuren des Aki Kaurismäki hervorbrachte.

Aber Kerkko winkt ab. Kaurismäki, das sei halt eine Persiflage. „Dieses Finnland gibt es nicht. Nicht mehr. In Lieksa!“, sagt er und lacht. „In Lieksa, da gibt es das noch!“

„Als der Krieg angefangen hat, da habe ich Dich angerufen, Kerkko. Wir haben überlegt, wo man jetzt hin soll. Wo ist es jetzt noch sicher?“, meint Iina, Kimmos Cousine. „Ja,“ antwortet Kerkko, „da dachten wir, wir fahren nach Lieksa, weil da nichts ist. Da ist nichts, was die Russen wollen.“ Kerkkos Lachen wird bitter. „Dann haben wir gesehen, was die Russen in der Ukraine machen. Jetzt wissen wir, man ist nirgendwo mehr sicher.“ „Ja, nicht solange es Waschmaschinen und Toiletten gibt!“, stimme ich zu. Wir lachen zusammen. Ich fühle mich erleichtert. Die Positionen hier in Finnland sind klar. Es gibt eine eindeutige Haltung zu Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, zur Nato und zum eigenen Land. Selbst bei Kerkko, dem ehemaligen Kommunisten, der sich 15 Jahre für den finnisch-russischen Austausch engagiert hat. Über die Jahre hat er enge Bande nach Russland geknüpft. Die Mutter seiner Tochter ist Russin. Es ist ihm wichtig festzuhalten: „Alle sprechen immer von Putins Krieg, aber ich sage, das stimmt nicht. Es ist ein Krieg der Russen. Sie sehnen sich nach einer lang vergangenen Zeit, die so nie existiert hat. Sie sehnen sich nach einer Illusion.“
Als seine Tochter ihn neulich gefragt hat, wo sie nach ihrem IT-Studium hingehen sollte, konnte er ihr nichts raten, fügt Kerkko noch hinzu. „Kanada, vielleicht …“

A cartoon by Liana Finck. #NewYorkerCartoons

Nicht nur die Themen vereinen die westlichen Gesellschaften, sondern auch ein gewisses Gefühl der Ratlosigkeit.

Abends auf dem Campingplatz Messilä denke ich, dass Kerkko Unrecht hat. Der Patz ist fest in finnischer Hand. Viele Dauercamper! Außer uns nur noch eine deutsche Reisegruppe aus Minden, sonst noch eine Handvoll Schweden und Norweger, aber wirklich nicht viele. Die deutschen Urlauber erkennt man an ihren Fleecejacken. Bei knapp 20 Grad und Nieselregen trägt der Finne auf dem Campingplatz T-Shirt. Auf der Wiese vor dem Strand ist ein großer Park aus Hüpfburgen aufgebaut. Die Kinder freuen sich. Beim Abspülen nach dem Abendbrot höre ich finnischen Schlager, mit dem die Terrasse des Bistros beschallt wird. Er klingt schwülstig und nach Fernweh.
Auf der Terrasse sitzen alleinstehende Damen und Herren einzeln an Tischen und trinken Bier. Sie schauen vor sich hin. Einige Herren tragen auch Hawaii-Hemden zur bunten Shorts. Das wirkt rührend deplatziert, eben sehr finnisch. Hier treffen sich das alte und das neue Finnland.

Für den nächsten Tag haben wir uns nichts vor genommen. Langsam beherrschen wir die Technik und so etwas wie Erholung setzt ein. Wir sind schon eine Woche unterwegs und haben noch keinen einzigen Mückenstich.

Tag 2 Ankunft in Helsinki

Rastila
Camping ist die Rückführung in eine steinzeitliche Lebensweise unter Zuhilfenahme modernster Technologie. Nach unserer Ankunft auf dem Rastila in Helsinki sind wir zunächst ständig mit dem Wohnmobil beschäftigt. Hier fehlt noch ein Tab, dort muss ein Ventil geöffnet werden, der Wagen gehört hoch gebockt, die Betten aufgestockt, die Luken müssen mit dem Mückengitter verschlossen, die Pumpe mag gestartet und sowieso alles gewartet werden.
Liebes Wohnmobil frag doch bitte nicht, was wir für Dich, sondern was Du für uns tun kannst.

Es hakt noch alles etwas. Um zu duschen, geht man dann eh lieber in eines der beigen Holzhäuser mit abschließbaren, geräumigen Kabinen. Die Duschen sind allerdings etwas für Energie-Optimierer. Der Duschkopf, fest montiert in ca. zwei Metern Höhe, sondert immer genau fünf Sekunden Wasser ab, bevor man wieder auf den Knopf drücken muss. Nach jedem fünften Mal kommt erst einmal ein ordentlicher Schwall kaltes Wasser. Robert Habecks feuchter Traum! Aber wenigstens ist der Strahl kräftig.

Enni lernt Finnisch
Trotz einer eher kurzen Nacht, ist unsere Tochter nun hoch motiviert Finnisch zu lernen.
Initial war ein halbstündiger Auftritt mit einem muttersprachigen Clown auf der Fähre im Rahmen des Kinderanimationsprogramm, während dem es Enni entweder nicht gelang zu vermitteln, dass sie kein Wort versteht oder das Bedürfnis „cool“ zu sein über die Scham siegte. Ich werde es nie erfahren, aber ich habe Hochachtung vor Ennis Willen zu unterhalten.

Enni lernt zaubern auf Finnisch!

Ennis wichtigster Satz: EN YMMÃRRÃ SITÄ – Ich verstehe das nicht.

Helsinki ist ansonsten einfach unbedingt liebenswert. Es ist bezaubernd wie Paris, sauber und grün wie Hamburg, lustig wie Köln, etwas weniger abgründig als Wien, irgendwie doch auch schräg, dabei aber nie angestrengt hipp – entschuldige, Berlin! Und überall ist schöne Schrift. Wenn ich mich beim Anblick der geschmückten Laternen schon etwas verguckt hatte, war es spätestens beim Betreten der Kinderbibliothek um mein Herz geschehen. Ach, Helsiniki, Du spröde Schöne, wärst Du doch nur nicht so teuer!

Zum Schluss noch ein kleines Quiz! Der Gewinner kriegt eine Tüte Lakritze. Was denkt Ihr, was dieses Holzschaf kostet? Aber nicht schummeln, nix hier Google Lens! Das zählt nicht! Schätzt doch mal.